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Termin der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht ist der 5. Juni 2012

11.05.2012

Kein negatives Stimmgewicht bei der Nachwahl 2005 in Dresden?

Einer der zentralen Punkte der anhängigen Wahlrechtsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist die Frage, ob der Gesetzgeber mit dem geänderten Bundeswahlgesetz das negative Stimmgewicht beseitigt1 hat.

Das Innenministerium des Bundes (BMI) hat in einer Untersuchung dazu, die in Amtshilfe für den Deutschen Bundestag erstellt wurde, das „negative Stimmgewicht“ neu definiert. Der „Zuwachs an Zweitstimmen“, der für eine Partei zu einem Sitzverlust führt, erfolge demnach nur bei „konstanter Wahlbeteiligung“, also – denn irgendwoher muss der Zuwachs ja kommen – zulasten der Zahl ungültiger Stimmen. Die Fälle, in denen sich die Wahlbeteiligung ändert, seien folglich kein echtes negatives Stimmgewicht. So auch unsere im Karlsruher Urteil vom 3. Juli 2008 zitierten Beispiele, bei denen explizit Nichtwähler mit einer Stimme für eine Partei dieser einen Sitzverlust beschert hätten oder Wähler zu Hause geblieben sind (BVerfGE 121, 266 <Rz. 48>). Damit fiele nicht nur unser Beispiel – das geänderte Wahlgesetz mit den Zahlen der Nachwahl in Dresden2 – aus der Definition, sondern auch das Standardbeispiel selbst: die Nachwahl in Dresden 2005 mit dem damaligen Wahlsystem.

Berechnung nach der Definition des Bundesinnenministeriums

Dazu rechnen wir die Nachwahl mit dem damaligen Wahlsystem unter den BMI-Bedingungen für das negative Stimmgewicht nach:

Die CDU hatte im Jahr 2005 bei der Nachwahl in Dresden 38.208 Zweitstimmen erhalten. Bei mehr als 41.594,93 Zweitstimmen wäre es ein Sitz weniger gewesen. Die CDU hätte also 3.387 Stimmen mehr erhalten müssen.

Für Sitzverlust notwendige CDU-Zweitstimmen:+ 41.595
Minus Zweitstimmen der CDU bei Nachwahl:− 38.208
Notwendige zusätzliche CDU-Zweitstimmen+ 3.387

Wo hätten diese Zweitstimmen herkommen können, wenn die Zahl der Wähler und die Stimmen anderer Parteien konstant bleiben müssen? Da blieben nur die ungültigen Stimmen: Wenn man annimmt, dass von den 1.888 ungültigen Zweitstimmen in Dresden mindestens 3.387 gültig für die CDU gewesen wären, dann …

Ungültige Zweitstimmen bei Nachwahl:+ 1.888
Minus notwendige zusätzliche CDU-Zweitstimmen− 3.387
Ungültige Zweitstimmen reduzieren sich auf:− 1.499

… landet man im Bereich negativer Zahlen.

Ein Sitzverlust der CDU wäre unter Anwendung der Bedingungen in der BMI-Definition folglich nur bei einer Reduzierung der Zahl der ungültigen Stimmen auf −1.499 (minus!) oder weniger möglich gewesen. Wenn man eine negative Anzahl von Ungültigwählern als unmöglich ansieht, dann hätte es sich also sogar bei der Nachwahl in Dresden, die für viele Medien und den Gesetzgeber selbst als Musterbeispiel des negativen Stimmgewichts angeführt wird, nicht um einen solchen Fall gehandelt!

Negative Wählerzahlen – für das BMI eine realitätsnahe Annahme?

Für das Innenministerium aber sind negative Stimmenzahlen keine Hürde: Dessen Simulationsrechnungen (hierzu unsere Analyse) rechnen mit einem Simulationskorridor, der auch negative Anzahlen ungültiger Zweitstimmen erfasst. Dies kann man schon bei überschlägigem Rechnen erkennen: 20 % mehr Zweitstimmen für eine 30 %-Partei (SPD und CDU liegen sehr oft darüber), sind rund 6 % der abgegebenen Stimmen. Der Anteil ungültiger Stimmen, aus denen sich diese 6 % speisen sollen, lag aber seit der Bundestagswahl 1969 unter 2 %. Das heißt, dass für einen großen Anteil des betrachteten Prüfintervalls die Anzahl ungültiger Stimmen kleiner als Null ist. Es ist schon erstaunlich, was alles zu „möglichst realitätsnah gewählten Annahmen“ gezählt wird!

Fazit: Negatives Stimmgewicht wegdefiniert

Zwar sind negative Stimmenzahlen nicht völlig unsinnig,3 aber auf diese Erweiterung des Wertebereichs hätten das Bundesinnen­ministerium sowie die Koalitionsfraktionen, welche die BMI-Ergebnisse als Beleg für ein angeblich verfassungsgemäßes Bundestags­wahlrecht nutzen, hinweisen müssen. Der durch die BMI-Definition in Wirklichkeit stark beschränkte Wertebereich, aus dem selbst die Dresdner Nachwahl bei der Bundestagswahl 2005 herausfällt, zeigt klar, dass das Innenministerium in seinen Berechnungen nur einen begrenzten Spezialfall des negativen Stimmgewichts betrachtet hat. Die Beseitigung des negativen Stimmgewichts nur in bestimmten Spezialfällen kann den Auftrag des Bundesverfassungsgericht aber nicht erfüllen.


Fußnoten

1 Der Anspruch des Bundesverfassungsgerichts ist „beseitigen“. Allerdings kann man angesichts der Ausweitung des negativen Stimmgewichts auch nicht von „reduzieren“ sprechen.
2 Dem Beipiel der Nachwahl in Dresden kann man nicht nachsagen, dass es konstruiert ist oder etwa aus einer Vielzahl von zumeist gegenteiligen Fällen herausgesucht wurde (Data-Mining).
3 Da sich die mathematischen Eigenschaften dadurch nicht dramatisch ändern, kann dies ein Ansatz sein, um etwa eine größere Anzahl von Simulationsergebnissen und dadurch eine bessere Statistik zu erhalten.



von Martin Fehndrich (11.05.2012, letzte Aktualisierung: 11.05.2012, letzte Aktualisierung der Links: 11.05.2012)